Wie wollen wir morgen leben? Zukunft neu denken, den Blick erweitern, Visionen schaffen.
Anfang 2020 versetzte die Corona-Pandemie die Welt in einen Ausnahmezustand. Auch in Deutschland und ganz Europa kam das gesellschaftliche und kulturelle Leben vorübergehend zum Erliegen. Menschenleere Einkaufsstraßen und Vergnügungsviertel, geschlossene Sportstätten, Restaurants, Clubs und Bars, versperrte Museen, Theater, Kinos und Konzerthäuser, dichte Grenzen, der flugzeuglose Himmel frei von Kondensstreifen: Im rasenden Stillstand des Lockdowns hielt die Zeit den Atem an. Währenddessen breitete sich das Virus rasant und unaufhaltbar auf unserer global vernetzten Erde aus.
Die weltumspannenden Endlosschlaufen des Dauertourismus, die Kreisläufe der Ökonomie und des Warenverkehrs: Wir existieren heute, zumindest in den Industrieländern, in einer von Finanzströmen und medialen Bilderfluten durchwirkten Wirklichkeit, in der alles mit allem und jede mit jedem verbunden ist. Die Corona-Krise hat zur Zuspitzung gebracht, dass wir auf unserem von drohender Klimakatastrophe massiv gefährdeten Planeten alle in einem Boot sitzen: Gemeinsam tragen wir auch die Verantwortung für das Fortbestehen unserer Erde.
Durch die Pandemie wurden die ständigen Umdrehungen rücksichtslosen Fortschritts ausgehebelt. Die Erfahrung, in unserer Bewegungs- und Handlungsfreiheit eingeschränkt und potenziell –und auch ganz real – in unserer Existenz gefährdet zu sein, führt uns vor Augen, was auf dem Spiel steht, wenn wir unsere Welt weiterhin als unverwüstlichen „Ort auf der Durchreise“1 behandeln, in dem wir als permanente Konsument:innen nur auf den nächsten Augenblick, den nächsten Deal, den nächsten Kick zielend unterwegs sind.
Wir haben jetzt die Chance, innezuhalten, den kapitalgesteuerten Kreisverkehr zu durchbrechen und unsere Gegenwart und Zukunft neu zu denken: mit Ideen, Gedanken und Handlungen, die unsere Gegenwart in eine resistentere, liebevollere, solidarischere, gerechtere und nachhaltigere Richtung tragen. Thomas Morus‘ 1516 publizierter Vorstellung einer idealen Gesellschaftsordnung auf der fiktiven Insel Utopia entspringen alle späteren Sozialutopien. Eine heutige Utopie könnte die „Suchbewegungen der Zukunft“ als multiperspektivische Erweiterung der Möglichkeits- und Aktionsräume in Aussicht stellen, in denen Veränderung bewirkt und „die beste aller Welten“2 realisiert werden kann.
Die Hamburger Künstlerin Sigrid Sandmann lädt zur Teilnahme an einem kollektiven UTOPIE-ARCHIV ein: Hier werden Visionen und Entwürfe für eine Welt von morgen gesammelt, in der soziales und ökologisches Gleichgewicht herrscht, ein Miteinander an die Stelle massiven Gegeneinanders tritt und Zuversicht Angst und eindimensionales Denken überwindet. Ideen aus dem virtuellen UTOPIE-ARCHIV werden 2021 im Realraum veröffentlicht: auf Großplakaten, die in der Hamburger Innenstadt Bürger:innen zum Mitdenken darüber anregen sollen, in welcher Welt wir morgen leben wollen.
Belinda Grace Gardner, 2020
(1)Boris Groys: „Die Weltstadtbürger“, in: 7 Hügel_Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts, IV) Zivilisation. Städte–Bürger–Cybercities. Die Zukunft unserer Lebenswelten, Ausst.-Kat. (Martin-Gropius-Bau, Berlin: 2000), hrsg. v. Gereon Sievernich; Thomas Medicus, Berlin 2000, S. 69.
(2)Gerhard Schulze: Die Beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?, München/Wien 2003, S. 12.
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